
Als der Meister sagte, dass „alles neu werden muss“ und nur diejenigen, „die neu geboren sind, in das Reich des Vaters eingehen können“, wies er darauf hin, dass die Menschen alles Alte, das tief in ihrer Seele verwurzelt ist, ablegen und fortan streng nach den Naturgesetzen leben müssen. Denn nur so können sich ihre geistigen Flügel entfalten, und nur mit ihnen können sie schließlich den ihnen vorherbestimmten Flug zu ihrer strahlenden Heimat – dem Paradies – antreten.

Einer der Schriftgelehrten, Nikodemus, hatte die Ausstrahlung Jesu gesehen und seine Kraft gespürt. Das ließ ihn nicht zur Ruhe, sodass er mitten in der Nacht aufstand und zu Jesus ging.
„Meister“, sagte er zu ihm, „ich weiß, dass du von Gott gesandt bist. Niemand kann tun, was du tust, es sei denn, Gott ist mit ihm. Sag mir: Was muss ich tun, um in das Reich Gottes zu gelangen?“
Jesus sah ihn an und erkannte, dass er es ernst meinte. Er sah aber auch, dass Nikodemus noch ganz in alten Ansichten verhaftet war. Und er antwortete:
„Wahrlich, ich sage dir: Wenn du nicht neu geboren wirst, kannst du nicht in das Reich Gottes eingehen!“
Nikodemus verstand diese Antwort nicht. Da fügte Jesus hinzu:
„Du musst von neuem Leben im Geist geboren werden. Denn dein Leib, der vom Fleisch geboren ist, muss vergehen wie alles Irdische. Dein Geist aber sehnt sich danach, in die Ewigkeit einzugehen. Doch wenn er nicht völlig erneuert wird, kann er nicht in das Reich Gottes gelangen.“
Nun begann Nikodemus zu erahnen, was Jesus mit dieser Antwort sagen wollte. Zögerlich fragte er: „Wie soll das geschehen, Herr?“
Da erklärte ihm Jesus: „Eine Region liegt in einem trägen Schlummer. Plötzlich bricht ein Sturm über sie herein. Man weiß weder, woher er kommt, noch wohin er zieht, aber man spürt seine Wut und sieht, wie er alles in Verwirrung stürzt. Ist er vorübergezogen, hat die Region ein anderes, neues Aussehen. So ist es auch mit Menschen, die von der Kraft Gottes ergriffen werden. Sie rüttelt die Schlafenden auf, und plötzlich sind sie innerlich verwandelt, vorausgesetzt, sie haben sich der erneuernden Kraft in keiner Weise widersetzt.“
„Ich werde keinen Widerstand leisten!“, platzte es aus Nikodemus heraus. „Ich lasse mich erschüttern, alles soll neu werden! Sag mir, was kann ich tun, damit der Sturm auch über mich hereinbricht?“
Der alte Mann zitterte, als würde er bereits hin und her geschleudert. Jesus sah ihn lächelnd an.
„Du bist ein Schriftgelehrter und verstehst es nicht? Wenn du, der du die Prophezeiungen kennst, mich nicht verstehst, wie sollen es dann die Ungebildeten begreifen? Ich versuche, so einfach zu sprechen, dass es sogar ein Kind verstehen kann!“
Beschämt senkte Nikodemus den Blick. Er meinte es ernst, er wollte sein Leben völlig ändern. Doch er hatte noch nicht begriffen, dass er den Sturm nicht beherrschen konnte. Er glaubte, alles selbst tun zu müssen.
Jesus wollte ihm helfen und fuhr fort: „Aus barmherziger Liebe sandte Gott, der Ewige, seinen Sohn in die Welt, in all die Finsternis und Dunkelheit. Es soll Licht in den Seelen der Menschen geben. Deshalb ist der Sohn Gottes gekommen. Wer ihm glaubt und nach seinen Worten handelt, wird den rechten Weg wiederfinden, der ihn zu Gott führt; ein solcher Mensch wird auch im Gericht bestehen, das einst über die Welt kommen muss.“
Beim Wort „Gericht“ war es, als ob der Zuhörer plötzlich verstand. „Herr“, stammelte er, „du bringst uns also das Gericht nicht?“
„Nein“, erwiderte Jesus freundlich. „Ich bringe euch das Heil, ehe das Gericht euch ereilt. Ich bringe euch Licht und Wahrheit. Nach mir wird der Sohn Gottes kommen, der von Ewigkeit her zum Richter der ganzen Welt bestimmt ist.
O ihr Menschen, wenn ihr doch nur hören würdet!“ Dem Schriftgelehrten traten Tränen in die Augen; er bemerkte es nicht. „Herr, ich glaube an dich! Ich weiß, dass du Gottes Sohn bist, und … und … ich danke dir!“
Er verneigte sich tief, ergriff den Saum von Jesu Gewand und presste seine zitternden Lippen darauf. Jesus aber legte segnend seine Hand auf das geneigte Haupt.
Nikodemus verließ schweigend den Raum, doch sein Herz brannte, und er glaubte, den Sturm zu spüren, der ihn durchfuhr.
Verwehte Zeit erwachen – Band 3
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